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Kuratiert von Ursula Ströbele
„Der Raum scheint entweder gezähmter oder harmloser zu sein als die Zeit: man begegnet überall Leuten, die Uhren haben, und sehr selten Leuten, die Kompasse haben. Man muss immer die Zeit wissen […], doch fragt man sich nie, wo man ist. Man glaubt es zu wissen: man ist zu Hause, man ist in seinem Büro, man ist in der Metro, man ist auf der Straße.“ (Georges Perec, Träume von Räumen, 1974)
Was ist Raum? – ein Begriff, der jedem von uns vertraut ist und mit dem wir täglich in den verschiedensten Formen konfrontiert werden. Seine komplexe Bedeutungsgeschichte changiert zwischen dem aus Schulgeometrie und Physik bekannten metrisch erfassbaren, geschlossenen Container-Raum und diffusen Alltagsvorstellungen von Welt-, Wohn-, Kultur- und sozial- öffentlichem, politischem Raum, Gedanken- und mentalem Reflexionsraum. Literarisch beschreibt Georges Perec Raum als „das, was den Blick aufhält, das, worauf die Augen treffen […], wenn es einen Winkel bildet, wenn es aufhört, wenn man sich umdrehen muss, damit es wieder weitergeht….“. Sein Versuch, Räumlichkeiten schriftlich zu fixieren, in ihren Grenzen abzustecken und sichtbar zu machen, sollen zu einer eigenen kritischen Standortbefragung anregen. Was ist Welt eigentlich?
Die Ausstellung „(Ver-)Handlungsräume“ in der Studiogalerie vom Haus am Lützowplatz präsentiert unterschiedliche Möglichkeiten einer Aneignung und Aktivierung von Raum im Sinne von temporären künstlerischen Setzungen bzw. Markierungen, d.h. Gesten, die die vertraute Sichtweise auf die alltägliche Umgebung irritieren, verfremden und zu neuen Perspektiven auffordern. In Anlehnung an Michel de Certeaus „Kunst des Handelns“ und seinem Verständnis von Raum „als Ort, mit dem man etwas macht“ sowie Maurice Merleau-Pontys anthropozentrischem, leibgebundenem Raumkonzept zeigen die vier in Berlin lebenden Künstler Vajiko Chachkhiani, Andreas Greiner, Fabian Knecht und Vinzenz Reinecke ausgewählte Werke, die eine performative Erfahrbarmachung des Raums ermöglichen und eine damit verbundene semantische Aufladung dokumentieren. Im Dialog mit dem aktivierten Betrachter entfalten sich diese skulpturalen Ereignisse erst innerhalb der Zeit und eröffnen spezifische Verhandlungsräume:
Bei „Entfachung“, einer Aktion von Fabian Knecht, entwich am 1. Oktober 2013 dem Dach des Museum of Contemporary Art Zagreb eine grau-schwarze, bedrohlich wirkende Rauchwolke, einen Großbrand evozierend. Sie hüllte die Umgebung in Nebel und erregte erhebliches Aufsehen. Was passiert, wenn Kunst aus dem White-Cube ausbricht, ohne Vorwarnung in unser Leben drängt, das ortsansässige Museumsgebäude dabei zu einem monumentalen Sockel dieser ephemeren Skulptur mutiert? Wie gehen wir mit unserer Faszination für Schreckensbilder um? Lässt sich diese gar in ein ästhetisches Erlebnis transferieren? – zentrale Fragen, denen der Künstler, u.a. zuletzt in seiner Explosions-Serie „Entladung“ (2012/13) mit Andreas Greiner an unterschiedlichen Orten in der urbanen Öffentlichkeit nachgeht. Seinem Interesse für physikalisch-biologische Phänomene geschuldet, arbeitet Letztgenannter schon seit einigen Jahren mit lebenden Organismen, Pflanzen und Tieren. Die buchstäblichen „living sculptures“ sind geprägt von einer eigenen Zeitlichkeit bzw. Rhythmik und erweitern das traditionelle Skulpturenverständnis. In zwei alltäglichen, mit Meerwasser gefüllten Kanistern aus nachgebendem Plastik befinden sich biolumineszente Algen, die in der Dunkelheit bei Bewegung geheimnisvolles Licht abgeben und kurz aufleuchten. Durch die Handlung des Betrachters, d.h. die Berührung des plastischen Objekts verändert sich dessen visuelle Erscheinung. Es reagiert auf die externe Stimulierung und adressiert sich an seine Umgebung.
Bereits mehrfach dienten Bücher Vinzenz Reinecke als plastisches Material, darunter in seiner Performance „The Flying Book“ (2012). In der Studiogalerie zeigt er ein eigens für den Ort realisiertes Objekt 26.11.2013, das in Konzeption und Gestalt auf einer vorgefundenen Situation basiert. Der Titel verweist auf die kürzlich durch ein Feuer beschädigte und vom Löschwasser zusätzlich angegriffene Bibliothek im Thüringischen Schloss Ehrenstein. Das durchnässte, gewellte Papier der Bücher dehnt sich aus und beansprucht nun einen größeren Platz als im vorigen Zustand. Zwischen zwei vertikalen Wandelementen durchteilt die Bodenskulptur horizontal den Raum. Dem Ausstellungsbesucher ist es überlassen, ob er mit einem Schritt über sie hinwegsteigt oder seinen Weg außenherum fortsetzt.
Bei all ihrer physischen Konkretheit leben die Werke Vajiko Chachkhianis von vagen Andeutungen und leisen Ahnungen über die teils unklare Herkunft des Materials, die es zu dechiffrieren gilt. Die scharfen Zacken seiner schwärzlichen Skulptur „Hunters“ (2014) muten fragil und gefährlich zugleich an: ein entlaubter, stabiler Ast mit spitzen Auskragungen – Objet-Trouvé aus einem abgebrannten, durch Krieg zerstörten Wald. Bei genauerem Hinsehen ist in der oberen Hälfte ein ungefähr handgroßes silberfarbenes Stück Blei in der verkohlten Rinde zu erkennen. Bei seinem Video „Sad Song“ (2013) thront inmitten einer verlassenen Ruine die umgestürzte Portraitbüste einer Kolossalstatue und erinnert an das Relikt einer gewaltvollen Triumphgeste, wie sie Siegermächten oder Demonstranten zu eigen ist. Verborgen in diesem entlegenen, sich selbst überlassenen „Depot“ sind ursprüngliche Gestalt und Bestimmung der Figur nur noch zu erahnen.
In der Ausstellung vereint, sprechen diese sich im Raum temporal ereignenden und aufeinandertreffenden Werke die Sinne des Betrachters an, fordern ihn zum Nachdenken, zum handelnden Sehen auf und lassen in der Interaktion mit ihrem Gegenüber ein Geflecht von Sinnpotentialen entstehen – Konfrontation mit dem eigenen Selbst durch den Anderen. Die enge Verschlungenheit von Körper und Welt, die Räumlichkeit unserer Existenz führt, so beschreibt es Merleau-Ponty, dazu, „daß sie nämlich nach innerer Notwendigkeit sich einem ´Außen´ öffnet.“
Ausstellungstext als PDF: VerHandlungsräume_Ströbele_Website
Coverbild: Fabian Knecht, Befreiung, 2012
Hinweis: Während der Umbauzeit in der Großen Galerie des HaL vom 11. bis zum 20. Februar 2014 ist die Studiogalerie nur von 11.00 bis 16.00 Uhr geöffnet und über unser Büro zu erreichen. Am 15. und 16. Februar 2014 sind die Räume geschlossen.
(Inter)Action Space
Curated by Dr. Ursula Ströbele
“Space seems to be either tamer or more inoffensive than time; we’re forever meeting people who have watches, very seldom people who have compasses. We always need to know what time it is (…) but we never ask ourselves where we are. We think we know: we are at home, at our office, in the Métro, in the street.“
(Georges Perec, Species of Spaces, 1974)
What is space? – a familiar term that confronts us in its various guises every day. Its complex semantic history covers the metrically tangible, closed container-room taught in school geometry and physics as well as our diffuse definitions of outer space, living space, cultural space, social and public space and also space for mental reflection. In literature George Perec describes space as follows: “Space is what arrests our gaze, what our sight stumbles over (…) Space is when it makes an angle, when it stops, when we have to turn for it to start off again.”. His attempt to capture space in writing, to limit it and make it visible calls for a critical assessment of our own whereabouts. What indeed constitutes ‘world’?
The exhibition „(Ver-)Handlungsräume“ (i.e. Spaces of Negotiation and Action) at Haus am Lützowplatz – Studio Gallery presents various ways of appropriating and activating space in terms of temporary artistic statements or impressions; in other words it introduces actions designed to shake up our accustomed view of the world around us, estranging it and thus prompting new perspectives. In reference to Michel der Certeau’s “Practice of Everyday Life” and his own understanding of space as a “practiced place”(p.117) as well to Maurice Merleau-Ponty’s anthropocentric, body-specific concept of space, four Berlin-based artists Vajiko Chachkhiani, Andreas Greiner, Fabian Knecht and Vinzenz Reinecke are showcasing a selection of works that enable a performative experience of space whilst documenting the related increase of semantic significance. Over time and in dialogue with an engaged audience the sculptural event unfold, opening up specific spaces of negotiation:
On the 1st October 2013, Fabian Knecht staged an intervention on the roof of the Museum of Contemporary Art in Zagreb entitled „Entfachung“ (Igniting) by creating an ominous black-grey plume of smoke that suggested a major fire. The smoke, which originated near a busy crossroad and was visible from afar, engulfed the surrounding area causing considerable concern. What occurs when art breaks out of the White Cube that is the gallery space and, without warning, penetrates our lives and transforms a local museum into a monumental pillar for an ephemeral sculpture? How do we deal with our own fascination for disaster? Can it be transformed into an aesthetic experience? These are the pivotal questions that the artist has been exploring, most recently through „Entladung“ (2012/2013), a series of controlled explosions in public spaces, staged in collaboration with Andreas Greiner.
Owing to his interest in physical-biological phenomena, Greiner has over the past few years concentrated on living organisms, plants and animals. These „living sculptures“ are defined by their own temporality or rhythm, broadening the view of traditional sculpture. Two standard, flexible plastic canisters filled with seawater hold bioluminescent algae that glow mysteriously in the dark and flicker when in motion. The visitor’s handling of the object causes a change in its appearance. It reacts to external stimuli and addresses its environment.
Vinzenz Reinecke often uses books as raw material for his work, for example in his performance „The Flying Book“ (2012). For the Studio Gallery he created 26.11.2013, a site-specific object conceptually and physically based on a previous occurance. The title’s date refers to the recent destruction of Thuringia’s Ehrenstein Castle library, first through fire then water. The waterlogged, curling book pages expand thus assuming more space than in their previous condition. Lodged between two vertically placed wall elements the floor sculpture divides the room horizontally. It is up to the visitor to walk across or circumnavigate the books.
Despite their concrete physicality Vajiko Chachkianis’ pieces thrive on vague notions and gentle hints regarding the partly speculative origin of the materials that want deciphering. The jagged points of his sculpture „Hunters“ (2014) appear fragile and at the same time dangerous: a solid, leafless branch with sharp points – an objet trouvé salvaged from a charred, war-torn forest. Closer inspection of the upper section reveals a hand-sized slither of silvery lead melted into the bark. Chachkianis’ video „Sad Song“ (2013) shows the toppled bust of a colossal statue amidst an abandoned ruin, an image reminiscent of the all-powerful gesture of triumph appropriated by victors and demonstrators alike. Hidden in this remote ‘depot’ and left to its own devices, the original form and purpose of the statue are just about conceivable.
United under one roof these temporarily concurring artworks awaken the visitor’s senses, provoking contemplation and active viewing and evoking a host of sensory experiences through interaction with the surroundings –this is a confrontation with the self through the ‘other’. Body and world are closely intertwined, or as Merleau-Ponty puts it: “We have said that space is existential; we might just as well have said that existence is spatial, that is, that though an inner necessity, it opens on to an ‘outside’,…”.
Image: Fabian Knecht, Befreiung, 2012