Birgit Dieker
Matrone, 2018
Miederwaren, Polstermaterialien, Gehstöcke
171 × 68 × 60 cm
Werkbeschreibung:
Die Skulptur zeigt eine voluminöse, fast wuchernde Form, die aus einer Vielzahl von Miederwaren besteht – darunter BHs, Korsetts und andere stützende Unterwäsche in hautfarbenen, cremeweißen und beigen Tönen. Diese Kleidungsstücke sind eng zusammengeschnürt, geschichtet und um eine amorphe Masse gespannt, wodurch eine übersteigerte, fast karikierte Körperlichkeit entsteht. Die verschiedenen Materialien, von elastischen Stoffen bis hin zu bestickten Spitzen und festen Verstärkungen, verleihen der Oberfläche eine komplexe Textur, die sowohl weich als auch formgebend wirkt.
Die Form der Skulptur ist mehrdeutig: Die nach außen wölbenden Körbchen und Stoffpolster erinnern an eine überdimensionierte Brustlandschaft oder einen üppigen, verzerrten Körper. Gleichzeitig erzeugt die enge Verschnürung durch Träger, Haken und Verschlüsse das Gefühl von Einschränkung und Kontrolle, als würde der Körper geformt, eingeschnürt oder festgehalten.
Statt auf festen Beinen oder einem klassischen Sockel zu stehen, ruht die Skulptur auf Krücken bzw. Gehstöcken, die an ihrer Basis mit schwarzen Gummifüßen enden. Diese tragen das schwere, unregelmäßige Oberteil und verleihen dem Werk eine fast fragile, instabile Erscheinung. Die Krücken sind aus Holz gefertigt, mit einer warmen, leicht glänzenden Oberfläche, die im Kontrast zur textilen, körperhaften Materialität des oberen Teils steht.
Katalogtext:
Die Künstlerin wurde 1969 in Gescher/Münsterland geboren und studierte Germanistik an der Technischen Universität Berlin und Kunsterziehung an der Hochschule der Künste Berlin (seit 2001 Universität der Künste). Ihr Studium der Bildhauerei schloss sie 1999 als Meisterschülerin bei Michael Schoenholtz ab.
1993 nahm sie am Austauschprogramm der Hochschule der Künste Berlin mit dem Central Saint Martins College of Art and Design in London teil. 1997 wurde sie mit einem Stipendium des Cusanuswerks in Bonn ausgezeichnet, 1999 folgte das Georg-Meistermann-Stipendium, ebenfalls in Bonn. 2001 erhielt sie das Bernhard-Heiliger-Nachwuchsstipendium und 2002 wurde ihr der Preis der Ilse-Augustin-Stiftung zur Förderung bildender Künstler verliehen. 2008 erhielt sie ein Arbeitsstipendium der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur in Berlin. Ein Höhepunkt ihrer Karriere war 2013 die Verleihung des Kunstpreises Berlin durch die Akademie der Künste im Auftrag des Landes Berlin.
Das zentrale Thema in Birgit Diekers Schaffen ist der menschliche Körper – sowohl seine äußere Hülle als auch die darunterliegenden Knochen und Organe, die sie in irritierend sinnlicher Form mittels textiler Materialien oder Leder, Geschirrfragmenten und Haaren übersetzt. Einen besonderen Schwerpunkt in ihrem Werk nimmt getragene Kleidung ein. Diese dient gemeinhin zum Schutz des Körpers sowie zur Inszenierung des Selbst. Abgelegte Kleidung enthält Spuren ihrer Träger:innen, sie ist verknüpft mit ihren Identitäten, mit gelebten Erfahrungen und Erinnerungen.
Die voluminösen Formen der hier ausgestellten kopflosen Matrone bestehen aus beigefarbenen Büstenhaltern und Korsetts. Die allesamt etwas altertümlichen Miederwaren stehen im Kontext ihrer plastischen Bearbeitung durch die Künstlerin sowohl für Schutz und Formgebung ebenso wie für die Einengung und Prägung des weiblichen Körpers durch gesellschaftliche Normen. Die Gehstöcke, die der Figur selbstständigen Halt verleihen, evozieren gleichzeitig Fragilität und Vergänglichkeit.
Text: Marc Wellmann