12 fotografische Daumenkinos auf Plexiglasscheiben, Fotoserie: „Selbstporträts auf Wanderschaft“
Volker Gerling (37) ist im Sommer 2003 von Berlin nach Basel und im Sommer 2005 von Basel nach Berlin gewandert. Auf dem Rücken 25 Kilo Gepäck, vor sich ein Bauchladen, auf dem sechs seiner Daumenkinos Platz hatten. Vor dem Bauchladen hing ein Schild mit der Aufschrift „Bitte besuchen Sie meine Wanderausstellung“. Und weil Gerling Angst hatte, etwas zu verpassen reiste er langsam und zu Fuß. Gerling schlief im Zelt, zeigte seine Daumenkinos am Straßenrand und über den Gartenzaun, besuchte Dorffeste und ging abends in Kneipen und Restaurants – insgesamt fünf Monate lang lebte er nur vom Zeigen seiner Ausstellung. Aus einigen der vielen Begegnungen sind neue Daumenkinos entstanden, in denen sich Menschen von ihm porträtieren ließen.
Die Menschen, die Gerling fotografiert, wissen vorher meist nicht, dass ein Daumenkino von ihnen entstehen wird. In 12 Sekunden belichtet Gerling mit einer motorisierten Spiegelreflexkamera einen kompletten Kleinbildfilm mit 36 Aufnahmen. Gerlings stetig auslösende Kamera zwingt seine ProtagonistInnen, ihre Posen aufzugeben, die sie bewusst oder unbewusst eingenommen haben. Die Gesten und Emotionen der Portraitierten entstehen so aus dem Moment, dem Augenblick und zeigen eine unmittelbare Schönheit des Wahren und Wesentlichen. Spätestens nach dem ersten Drittel des Films wird etwas passiert sein: ein Lächeln, ein fragender Blick, ein Zurück-Werfen des Kopfes. Gerlings Daumenkinos bestehen aus schwarz-weißen Handabzügen auf Barytpapier. Sie sind an der Falz mit Messingschrauben gebunden und wenn der Daumen beim Blättern Bild für Bild freigibt, wird die Handfläche zu einer kleinen Projektionskammer: ein junges Mädchen, das sich mit fest geschlossenen Augen ihre langen, lockigen Haare abschneiden ließ, streicht sich über ihren kurz rasiertem Schopf („Mädchen mit langen und mit kurzen Haaren“, Jena 2003). Ein junges Paar hat fürs Fotografiert-Werden einen Euro verlangt. Der Wind spielt in den Haaren des Mädchens und sie lässt einen Augenaufschlag fallen. Für einen kurzen Moment wirkt sie sehr erwachsen („Freunde auf der Straße“, Halle/Saale, 2005). Eine Frau sitzt an einer Bar. Selbstbewusst zieht sie ihr T-Shirts über den Kopf und zeigt ihre Brüste („Frau auf Barhocker“, Halle/Saale, 2005). Es sind diese Gesten, die beim Betrachter hängen bleiben, weil sie so nah erscheinen, als hätten sie einem selber gegolten. Gerlings Daumenkinos – poetische Miniaturen, angesiedelt zwischen Film und klassischer Portraitfotografie – erzählen von der Sehnsucht, die einen manchmal überkommt, nicht die Zeit anzuhalten, sondern sie in die Länge zu ziehen, sie im Raum zu verteilen und einen Moment zu bewohnen wie ein Zimmer.
In der Ausstellung „Bilder lernen laufen, indem man sie herumträgt“ werden 12 Daumenkinos gezeigt, die auf Gerlings Wanderschaften entstanden sind. Präsentiert werden die Daumenkinos auf Plexiglasscheiben, die als stilisiertes Prinzip des Bauchladens fungieren. Bedruckt sind die Scheiben mit handschriftlichen Texten Gerlings, in denen er berichtet, in welchen Situationen er seine ProtagonistInnen traf.
Zusätzlich wird erstmals eine Auswahl aus Gerlings Serie „Selbstporträts auf Wanderschaft“ gezeigt. Gerling fotografiert sich vor wechselnden Landschaften und legt dabei die Schärfe nicht auf sich, sondern auf den Bildhintergrund. Gerlings Ziel ist es, diese als Langzeitprojekt konzipierte Serie fortführen, bis aus dem unscharfen Mann im Vordergrund ein unscharfer, alter Mann geworden ist.
Es sprechen: Karin Pott, Begrüßung Katharina Schilling, Einführung