Ausstellung in der Studiogalerie vom Haus am Lützowplatz (HaL) mit Werken von
Ina Bierstedt, Bettina Carl, Anna Gollwitzer, Irène Hug, Lucy Powell und Peter Torp.
Eröffnung, Freitag, 29. September 2017, 19 Uhr
R.A.Q. bringt sechs Positionen zusammen, in denen Texte eine zentrale Rolle spielen. So unterschiedlich wie die Art und Herkunft dieser Textmaterialien sind auch die Medien, in denen die KünstlerInnen darauf reagieren. Dabei geht es in R.A.Q. immer wieder um die Fragen, die der wechselseitige Bedeutungstransfer zwischen verschiedenen Zeichensystemen aufwirft: Dem vermeintlich zugänglichen System der verbalen Sprache —dem Gedachten, Geschriebenen, Gesagten— einerseits und andrerseits den bildhaften, plastischen Erscheinungsformen von Sinn und Unsinn, die uns als Kunstwerke gegenüberstehen. Wie lesen wir hier zwischen den Zeilen? Welches Vorwissen schiebt sich ins Bild und welche Wissenslücken unterbrechen die Lektüre? Welche Verwechslungen, Missverständnisse und Abschweifungen bestimmen den Lauf unserer Interpretation?
Unabhängig davon, in welchem Code wir gerade kommunizieren, nehmen wir Zeichen nie in Reinform wahr, vielmehr überlagern sich diverse semiotische (auf Bedeutung verweisende) Phänomene, wie Bilder, Klänge und Worte. Innerhalb jedes Zeichensystems sind die Verbindungen zwischen dem Bezeichneten, seiner begrifflichen Vorstellung und dem Zeichenträger rein arbiträr und damit prinzipiell dynamisch. Diese Erkenntnis leitete seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts eine Neuorientierung der Geisteswissenschaften ein, den linguistic turn. Etwa zeitgleich begannen auch bildende KünstlerInnen vermehrt die Spielräumen zu erkunden, die sich zwischen einem Begriff, seiner Repräsentation und einem Referenten eröffnen lassen — Ceci n’est pas une pipe —, und sie entdeckten das Potenzial der Irritationen, die eine De- oder Re-Kontextualisierung von Zeichen bewirken kann. An diese Strategien und ihre postmodernen und -digitalen Varianten knüpfen auch die Arbeiten in R.A.Q. an.
Manche Werke der Ausstellung bieten dem Publikum konkreten Lesestoff, wie die Wand aus hölzernen Buchstabenklötzen, mit der Irène Hug Ludwig Wittgenstein zitiert. Auch die Exponate aus Ina Bierstedts Projekt „Verspiegelte Fenster“ erschließen sich zunächst über das Lesen und Zuhören. Andere Beiträge, wie Lucy Powells Video „Wanderschmerz“, machen die Lesbarkeit selbst zum Thema — oder zu einer Herausforderung, wie Peter Torps gezeichnete Satzrätsel. Anna Gollwitzers „Schreibstube der Anna O.“ kommt ohne Schrift aus, sie verweist nur im Titel der Installation auf die Themen, die sie verarbeitet hat, während sich in Bettina Carls Zeichnungsserie, einer Hommage an Hanne Darboven, verbale und piktorale Elemente ständig kommentieren und unterwandern.
(Text: Bettina Carl, CAPRI Berlin)
(Banner: Berg 3, copyright Ina Bierstedt 2017)
KÜNSTLERINNEN UND KÜNSTLER
Peter Torp (* 1954 in Bühnsdorf) hat ein ausgefeiltes System entwickelt, um zeichnend das Sprachmaterial philosophischer Aufsätze, z.B. Heideggers Was heißt Denken?, in seine eigenen Aussagen zu überführen. Seine illustrierte Prosa liefert eine Spielanleitung zum verzögerten Rückübersetzen: Um zum Ausgangstext zu gelangen, muss die Betrachterin jedes einzelne Wort buchstabenweise aus einer bildhaften Verkleidung schälen, von der stets einige irritierende Fetzen an dem hängen bleiben, was langsam als Original hervortritt. Zwischendrin gibt man auf und überlässt sich dem Offensichtlichen — Der augenfälligen Fälschung.
http://www.rehbein-galerie.de/Peter-Torp-Works.27.html
Mitunter arbeitet auch Irène Hug (* 1964 in Zürich) mit philosophischen Fundstücken, vor allem verwertet sie in ihren Fotomontagen und Objekten jedoch Reklameschriften, Firmenlogos und Wegweiser aus urbanen Räumen. Die Künstlerin eignet sich typografische Formen an, die im Alltag penetrant zum Wiedererkennen und Konsumieren auffordern und recyclet diese als Vehikel für ihre eigenen, subversiven Botschaften.
http://irenehug.com
Lucy Powells (* 1972 in Münster) „Der Wanderschmerz“ ist ein animierter Prosatext, vielleicht auch ein Gedicht, das sich als Wortstakkato in einem Monitor abspult. Die Links-Rechts-Linearität abendländischer Lesegewohnheiten ist durch eine ratternde Zentralperspektive ersetzt, der Rhythmus ist irregulär und schnell. Auch in ihrem Künstlerbuch „100 %“ arbeitet Powell mit Sprüngen: Auf hundert Seiten knallt dem Betrachter je eine Prozentangabe entgegen. Beim Umblättern entfaltet sich ein subjektives Panorama unserer Lebenswelt, das vertraut erscheint, in der Menge und Abfolge jedoch zunehmend irritiert — Warum merken wir uns nur bestimmte Informationen? Warum adelt das %-Zeichen jede Behauptung zu einer erwiesenen Tatsache?
http://www.lucy-powell.com
Bettina Carl (* 1968 in Coburg) formuliert in „Hanne sagte“ eine persönliche Hommage an Hanne Darboven, über deren Werk sie vor Jahren einen längeren Essay publizierte. Der monotone Marschtritt des „Eins, zwei“ und die buchhalterische Disziplin, die Hanne Darbovens Werke auf den ersten Blick charakterisieren, lieferten den Rahmen für ein ausuferndes Universum: Hanne Darboven errichtete eine idiosynkratische Ordnung, die sich selbst vorführt, überholt und überwuchert. Gleichermaßen fasziniert und befremdet kommentiert Bettina Carl den Maximalismus Hanne Darbovens in acht lakonischen, kleinformatigen Zeichnungen. http://www.bettinacarl.de/index.html
Auch Anna Gollwitzer (* 1968 in Waldkraiburg) widmet ihren Beitrag einer historischen Figur. Die assoziative Installation Die Schreibstube der Anna O. bezieht sich auf Sigmund Freuds (bzw. Josef Breuers) Patientin Anna O.: Unter diesem Pseudonym erlangte Bertha Pappenheim als jugendliche ‚Hysterikern‘ und erster Fall der Psychoanalyse internationale Berühmtheit. Allerdings verschwand hinter dieser quasi literarischen Gestalt die reale Bertha Pappenheim (1859-1936) aus der öffentlichen Wahrnehmung: Eine Frau, die sich ihr Leben lang als feministische, jüdische Sozialarbeiterin und Autorin engagierte.
http://www.annagollwitzer.com/i.html
Ina Bierstedt (* 1965 in Salzwedel) befasst sich in ihrem aktuellen Projekt „Verspiegelte Fenster“ mit Formen des Erinnerns, Verdrängens und Vergessens. Dokumentarisches Material aus dem Nachlass ihres Vaters, der als Maler abseits des offiziellen Kunstbetriebs der DDR arbeitete, untersucht Ina Bierstedt ebenso wie Briefe von Verwandten, die als politische Gefangene inhaftiert waren. Diese Zeitzeugnisse erfahren in „Verspiegelte Fenster“ eine künstlerische Transformation, in der sich auch das Erinnern als schöpferischer Prozess manifestiert.
http://www.inabierstedt.de/
EDITIONEN ZUR AUSSTELLUNG:
Anna Gollwitzer, Blau genau dort und Blau weiter vorn II, 2009
zwei Colourprints , 20 x 30 cm, Auflage: 10 + 1 AP
300,- Euro (ohne Rahmen)
Anna Gollwitzer © VG Bild-Kunst, Bonn 2017
Bettina Carl, Vorspiel (an Bettina von Arnim), 2017
Inkjetprint, 20 x 28 cm, Auflage: 5
260,- Euro (ohne Rahmen)
Bettina Carl © VG Bild-Kunst, Bonn 2017
Ina Bierstedt, Canterville, 2017
gebleichter Tarnstoff, ca. 35 x 30 cm, Auflage: 3 + 1 AP
280,- Euro
Irène Hug, Das was man nicht sagen kann, 2013
Siebdruck auf Sperrholz, 35 x 52 cm, Auflage: 10
500,- Euro
Lucy Powell, 25 Manifestations of Melancholy, 2007
Blindhochdruck, 45 x 24 cm, Auflage: 15 + 2 AP
250,- Euro (ohne Rahmen)
Peter Torp, Unendliche Sinnexplosion, 2017
Set aus 9 Photogrammen, je 22 x 15 cm, Auflage: 10
pro Set: 500,- Euro (ohne Rahmen)
Fotos der Ausstellungseröffnung